Im November 2024 fand „Mannheim liest ein Buch“ zum dritten Mal statt. Bei diesem Projekt wird ein Roman ausgewählt, der zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört und ein Thema behandelt, dass möglichst viele Mannheimer:innen beschäftigt. Dieses Jahr entschied sich die Jury für Shida Bazyars „Drei Kameradinnen“ (2021). Einen Monat lang waren verschiedene Veranstaltungen geplant, bei denen der Roman vorgelesen, besprochen und diskutiert wurde. Auch die Autorin selbst war bei einigen Events zu Gast.

Worum geht es bei der Aktion?
Im Gespräch mit dem Uni-Magazin erklärt Thomas Wortmann, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Uni Mannheim, wie das Projekt ursprünglich zustande kam: Ganz verschiedene Menschen waren während Corona daran interessiert, eine stadtweite Leseaktion zu planen. Daher beteiligen sich verschiedene Mannheimer Institutionen an dem Projekt.Dazu gehören unter anderem die Philosophische Fakultät der Universität, das Nationaltheater, die Stadtbibliothek, das Kulturamt der Stadt Mannheim und viele weitere. 2022 schlossen sie sich dann für die erste Ausgabe von „Mannheim liest ein Buch“ zusammen. Auftakt der Aktion war der Roman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ von Karosh Taha.
Eine Jury bestehend aus Menschen der beteiligten Institutionen stimmt über das Buch für die Aktion ab. Dabei soll der ausgewählte Roman verschiedene Voraussetzungen erfüllen. Zum Beispiel soll der Autor oder die Autorin noch am Leben sein, damit sie oder er nach Mannheim kommen kann und man mit ihnen ins Gespräch kommen kann. Des Weiteren ist den Initiatoren ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Autorinnen und Autoren wichtig. Letztendlich zählt aber vor allem die Qualität des Romans und wie es diesem gelingt, sich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinanderzusetzen. Es soll gezeigt werden, welchen Beitrag Literatur zur öffentlichen Debatte leisten kann.
Auftaktveranstaltung mit Shida Bazyar
Bei der Auftaktveranstaltung, die am 4. November in der Aula der Universität Mannheim stattfand, las die Autorin Shida Bazyar einige Passagen aus ihrem Roman vor und beantwortete die Fragen von Sandra Beck und Thomas Wortmann, Literaturwissenschaftler am Seminar für Deutsche Philologie der Uni Mannheim.
Unter anderem sprachen sie über den Titel, den die Autorin gewählt hat. Dieser stand, unüblicherweise, schon von Beginn des Schreibprozesses an fest. Der Roman „Drei Kameraden“ (1936) von Erich Maria Remarque diente ihr dabei als Inspiration. Der sonst männlich konnotierte Begriff Kameradschaft wird in Bazyars Text auf drei junge Frauen übertragen: die Ich-Erzählerin Kasih und ihre beiden besten Freundinnen Saya und Hani.
Die Autorin erzählt außerdem von einem weiteren Roman, der ihr als Inspiration diente: Louisa May Alcotts „Little Women“ (1868). Dort geht es um vier Schwestern rund um Jo March, die Autorin werden möchte und Bazyar darum schon früh als Inspiration für ihr eigenes Leben dient. Genau wie Alcotts Schwestern auch, streiten sich Bazyars Kameradinnen teils heftig miteinander. Für die Autorin ist jedoch gerade das ein Zeichen dafür, wie nahe sich Menschen stehen und wie wichtig sie einander sind. Denn man hat gar keinen Grund sich intensiv mit Menschen zu streiten, die keine wichtige Rolle im eigenen Leben einnehmen.
Eher unabsichtlich bricht Shida Bazyar in ihrem Roman mit den Normen der Erzählinstanz. So hält sich die Erzählerin an keine Chronologie und lässt sich über die Textkonventionen aus, die man in der Schule lernt: “Reihenfolgen sind was für Deutschlehrer, damit sie unsere Geschichten zügeln können. Was für Geschichten sollen denn bitte entstehen, wenn man sich immerzu an Einleitung-Hauptteil-Schluss halten muss.”
Ganz bewusst hingegen entscheidet sich die Autorin für eine Emotion, die sowohl die Erzählerin als auch die Geschichte charakterisiert: Wut. Vor allem weibliche Wut ist ein elementares Thema, oft wird sie durch die Erfahrung mit Alltagsrassismus ausgelöst: „Rechtsruck. Was für ein merkwürdiger Begriff. Als handelte es sich um eine unaufhaltbare, mechanische Bewegung, die auf einmal durch ein völlig verblüfftes Volk geht.“ Fast der komplette Roman ist eine Antwort auf einen kurzen Zeitungsartikel, der ganz am Anfang des Buches steht. In diesem wird eine der Kameradinnen als Islamistin diffamiert. Im Folgenden lernt der Leser, was es tatsächlich damit auf sich hat. „Drei Kameradinnen“ behandelt verschiedenste Themen, darunter Rassismus, Rechtsterrorismus und Sexismus. Außerdem erzählt der Text von Klasse und von den sozialen Codes, die damit einhergehen.
Sternstunde für den Mannheimer Kulturbetrieb
Für die Zukunft des Projekts erhofft sich Thomas Wortmann als einer der Initiatoren, dass es noch weiterwachsen wird. Eine Entwicklung im Vergleich zu den letzten Jahren sieht er dieses Jahr in der Zahl der verschiedenen Veranstaltungen und Initiativen, die sich rund um das Projekt gebildet haben. Mehrere Lesekreise, um über den Roman zu sprechen, Schulklassen, die die Bundesagentur für Arbeit besuchen oder Menschen, die das Buch für sich lesen und sich damit beschäftigen. Sie alle sind den Initiatoren genauso wichtig wie die große Auftaktveranstaltung.
Dass es bei diesem Projekt darum geht, eine möglichst breite Leserschaft anzusprechen, sieht man im Konzept der Wanderbücher. 150 Ausgaben des Romans liegen u.a. in den verschiedenen Mannheimer Bibliotheken aus und können dort kostenlos mitgenommen werden. Die Idee dahinter ist, dass man den Roman liest, die liebsten Stellen markiert und wieder zurückgibt, damit die Bücher weiter durch die Stadt wandern können. Außerdem achtet die Jury bei der Auswahl des Buchs darauf, dass es bereits als Taschenbuchausgabe veröffentlicht ist. Diese ist deutlich günstiger als ein Hardcover und ermöglicht dadurch, dass sich möglichst alle das Buch leisten und an der Aktion teilnehmen können.
Auch wenn das Projekt inzwischen schon vorbei ist und es bis zur nächsten Ausgabe noch einige Monate hin sind, kann man in „Mannheim liest ein Buch“ eine Sternstunde für den Mannheimer Kulturbetrieb sehen. Als Kooperation zwischen der Universität, dem Nationaltheater Mannheim, dem Kulturamt der Stadt und anderen Institutionen ist es ein voller Erfolg. So beteiligen sich an der Leseaktion Mannheimer:innen und aus allen Altersstufen, wie man auch bei der Auftaktveranstaltung beobachten konnte. An so einer Sternstunde sollten noch viel mehr Interessierte teilnehmen.