Leo Lorena Wyss ist ein neu erstrahlender Stern am Himmel der Autorinnen und Autoren des Theaters. Nach einem Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis widmet sich Wyss nun dem Studium der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Bereits mehrfach ausgezeichnet, wurde Wyss 2022 mit dem Literar-Mechana-Stipendium für Dramatikerinnen und Dramatiker geehrt. 2023 folgten weitere herausragende Erfolge: Für das Stück Blaupause erhielt Wyss den Autor:innenpreis des 40. Heidelberger Stückemarkts, während Muttertier mit dem Retzhofer Dramapreis prämiert wurde.
In der Spielzeit 2024/25 ist Leo Lorena Wyss Hausautor:in am Nationaltheater Mannheim, für das Wyss das Stück Apropos Schmerz schrieb, das am Freitag, den 10. Januar 2025, in der Regie von Caroline Anne Kapp seine Uraufführung im Studio Werkhaus hatte. Das Stück bringt die Hürden und Mauern zur Sprache, denen weiblich gelesene Personen im Gesundheitssystem begegnen.
Eine Krankheit, die oft unerkannt bleibt
„Just have a little patience. Still hurting from a love I lost. I’m feeling your frustration. But any minute all the pain will stop“ singen die Darsteller (Maria Helena Bretschneider, Rahel Weiss, Daniel Krimsky, Dominika Hebel), während das brennend rote Licht auf der Bühne immer dunkler wird, bis es schlussendlich vollständig erlischt. Kurz darauf: tosender Applaus. So endete Wyss’ Stück. Die Liedzeilen aus Patience der britischen Boyband Take That bringen auf den Punkt, was die Hauptfigur Anna Blume (Dominika Hebel) erleben muss. Sie leidet an der Krankheit Endometriose, die viele Jahre ihres Lebens unentdeckt bleibt. Diese Krankheit beeinträchtigt Frauen oft unermesslich, ist im Kontrast dazu allerdings noch kaum erforscht und bisher nicht heilbar. Das Stück beschäftigt sich zentral mit der Frage, wie hierfür eine Sprache gefunden werden kann.
Als Zuschauer begleitet man Anna auf ihrer Reise durch Wartezimmer beim Frauenarzt, Arztgespräche, psychische Beratungsstellen und sexuelle Erfahrungen. Es werden Eindrücke aufgegriffen, die den meisten Frauen bekannt sind. Humoristisch und überspitzt werden die Magazine im Wartezimmer der gynäkologischen Praxis dargestellt, die sich meistens um das Thema Abnehmen drehen. Daraufhin folgen Gespräche mit einem Arzt, der nicht richtig zuhört, fragt, ob Anna Stress habe, und anstatt einer ausgiebigen Untersuchung nur Schmerzmittel und die Pille verschreibt. Nicht zu vergessen: das angeblich entspannende Kräuterbad. Ausgiebiges Lachen ist bei diesen Szenen aus dem Publikumsraum zu vernehmen, vor allem seitens der Frauen. Die Ironie dahinter: Die Thematik ist alles andere als zum Lachen. Frauenkörper sind in der Medizin oft eine Lücke im System. Die meiste Forschung fand bisher an Männern statt. Die Diätmagazine im Wartezimmer und die Antibabypille als universeller Problemlöser sind Erfahrungen, an denen man als biologisch weibliche Person kaum vorbeikommt.
Annas Mutter und auch der Frauenarzt versichern ihr immer wieder, Regelschmerzen seien etwas völlig Normales für Frauen. In einer eindringlichen Szene aus Annas Kindheit beobachtet sie ihre Mutter, wie sie weinend mit einer Wärmflasche auf dem Sofa liegt. Als Anna nachfragt, bekommt sie nur ein leises „Alles ist gut, geh wieder ins Bett“ zur Antwort. Doch für Anna bleibt dieses Bild haften. Im Verlauf des Stücks wird sie immer wieder von quälenden Gedanken heimgesucht: Übertreibt sie vielleicht? Steigert sie sich in den Schmerz hinein? Schließlich ist es doch etwas, das Frauen angeblich einfach ertragen müssen.
Schmerz als Normalzustand?
Die Bewegungen der Hauptfigur verlaufen mechanisch, wie ein Roboter. Oder wie ein Charakter aus dem Videospiel Die Sims; diese Analogie ist ein zentrales Stilmittel des Stückes. Es unterstreicht das Alltagserleben von Frauen, die unter Endometriose leiden. Handlungen werden ausgeführt, als wären sie von einer externen Kraft gesteuert. Betroffene fühlen sich oft fremd in ihrem eigenen Körper, der Schmerz verschleiert die Wahrnehmung. Mit der Zeit entwickelt sich dieses Empfinden zu einem bedrückenden Normalzustand – man gewöhnt sich daran, lernt, es ein Stück weit auszublenden, doch gänzlich verschwindet es nie. Immer wieder kommt der Schmerz plötzlich und unerwartet, wie aus dem Nichts.
Diese Erlebnisse wurden auf der Bühne in einer Szene zwischen Anna und ihrer Partner:in Robin (Maria Helena Bretschneider) greifbar gemacht: Sie erleben Leidenschaft, Nähe, Liebe und Lust, bis Anna plötzlich ein stechender Schmerz durchfährt. Beide wissen nicht, was sie tun sollen, schämen sich, machen sich Sorgen, bis Anna wieder in die mechanischen Bewegungen der Sims-Charaktere verfällt, um erneut die Illusion zu wahren, sie könne ein normales Leben führen. Dieses vermeintlich „normale Leben“ setzt sich über Jahre fort, geprägt von Anpassung und Verdrängung. Erst als Anna am Ende des Stückes fast 30 Jahre alt ist, erhält sie endlich die Diagnose: Endometriose. Und damit auch die Diagnose: unheilbar, unerforscht, hoffnungslos.
Eine repetitive Verwendung von Metaphern sorgt für ein anschauliches Verständnis, wie sich der Schmerz dieser Krankheit anfühlen muss. Eisschollen im Rücken, Messerstiche im gesamten Körper, ein Staubsaugerrohr, das einem das Innere heraussaugt, sowie ein Luftballon, der sich immer weiter aufbläst, bis er kurz davor ist zu platzen. Das Bühnenbild (Gestaltung von Amina Nouns) zeigt sich kongruent zu den Gefühlen auf der sprachlichen Ebene.
Leo Lorena Wyss setzt mit Apropos Schmerz ein Zeichen für das Gesundheitssystem, das sich intensiver mit Frauenkörpern auseinandersetzen muss. Wyss ist nicht nur eine Sternstunde im Kreise der Autorinnen und Autoren, sondern auch das Thema der Produktion greift ein so bedeutsames Problemfeld auf, dass dessen Aufarbeitung eine wahre Sternstunde der Medizin verspricht – eine Vision, die wir hoffentlich schon bald erleben werden und für die Frauen mit aller Kraft kämpfen.