Themenwochen Weltfrauentag

Der 7. Februar 2005 in Berlin

Es ist der 7. Februar 2005. Man hört Schüsse an der Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Als Menschen
herbeieilen, kommt jede Hilfe zu spät. Hatun Aynur Sürücü liegt am Boden, durch drei Kopfschüsse
getötet. Eine Kippe, an der die Glut noch brennt und eine zerbrochene Kaffeetasse liegen neben ihr.
Ihr denkt jetzt bestimmt, dass viele schreckliche Dinge passieren und das ganze außerdem über 15
Jahre her ist – und ihr habt Recht, doch Hatuns Geschichte verdient auch nach 15 Jahren immer noch
Zuhörer.

Ganz abgesehen davon, dass Hatuns Mord der erste richtig bekannte Ehrenmord in Deutschland war,
war Hatun auch sonst eine sehr inspirierende Person. Hatun musste bereits vor Erreichung der
Volljährigkeit in der 8. Klasse die Schule abbrechen und nach der streng sunnitisch-kurdischen
Tradition ihrer Eltern ihren Cousin heiraten – den Sohn der Schwester ihres Vaters. Von diesem wird
sie schließlich in der Türkei schwanger. Als Hatun jedoch von ihrem Mann mehrfach geschlagen wird,
flüchtet sie schwanger aus der Türkei zurück zu ihren Eltern nach Deutschland. Ihre Eltern und drei
ihrer fünf Brüder waren über diese Rückkehr und über die Blamage der Familie überhaupt nicht
erfreut. Schließlich darf sie doch bei ihren Eltern zuhause bleiben. Sie schläft letztendlich mit ihrem
Sohn in der Besenkammer, da es im Zimmer mit ihren drei weiteren Schwestern und ihrem Sohn Can
zu eng wurde. Sie möchte ausziehen. Doch das ist nach der strengen Tradition ihrer Eltern nicht
erlaubt. Scheitert die Ehe muss die Frau trauern; in Demut. Sie soll schwarz tragen und das Haus
nicht ohne einen ihrer Brüder oder ihre Eltern verlassen. Sie darf nicht die Schule wieder besuchen
oder eine Ausbildung machen. Sie darf lediglich beten, Zuhause arbeiten und ihrer Mutter beim
Einkauf und beim Haushalt helfen. Als sie ihre Eltern bittet ausziehen zu dürfen, kommt es zu einem
heftigen Streit. Ihr wird vorgeworfen die Ehre der Familie in den Dreck zu ziehen. Dennoch zieht
Hatun Ende 1999 schließlich in ein Frauenhaus und jobbt zusätzlich in einem Supermarkt. Als wäre
das alles für ihre Familie nicht schlimm genug, beginnt Hatun 2001 eine Ausbildung zur
Elektroinstallateurin, nachdem sie zuvor ihren Hauptschulabschluss nachgeholt hatte. Zusätzlich
beginnt sie mit einer Freundin aus dem Frauenhaus auszugehen und legt ihr Kopftuch ab. Hatun
versucht immer wieder den Kontakt zu ihrer geliebten Familie zu erhalten, doch ihre Brüder
bedrohen sie und beleidigen sie als Hure und Schande für die Familie. Sie verfolgen sie und drohen
ihr, sie solle Berlin lieber verlassen, weil sie vom richtigen Weg abgekommen sei und ein Leben in
Unzucht führe. Sie drohen ihr, ihr Can wegzunehmen. Der Rest der Familie spricht nicht mehr mit ihr.
Als ihre Familie herausfindet, dass sie zudem einen deutschen Freund hat, wird alles schlimmer. Ihre
Familie schneidet sie, möchte sie nicht mehr sehen. Keiner der Familie hat nur einen deutschen
Freund. Die Kinder besuchen die damals einzige Schule in Berlin, die von keinem deutschen Kind
besucht wird. Ab und zu melden sich einzelne Familienmitglieder und bitten sie damit aufzuhören
und nach Hause zu kommen. Doch vor allem drei ihrer fünf Brüder lassen ihr keine Ruhe und
bedrohen sie tagtäglich. Ihr vierter Bruder hat inzwischen Berlin verlassen und studiert Jura in Köln.
Vor seiner Abreise rat er Hatun zu gehen und den Kontakt zu ihrer Familie endgültig zu beenden –
doch das möchte sie nicht. Ihr fünfter Bruder sitzt schon lange vor diesen ganzen Geschehnissen im
Gefängnis. Die Terroranrufe ihrer Brüder begleiten sie meistens drei bis vier Mal am Tag. Als sie
ihrem Bruder zufällig in der Bahn begegnet, schlägt er sie. Hatun stellt Strafanzeige bei der Polizei.
Diese möchte jedoch nichts lediglich aufgrund von Beleidigungen und Drohungen unternehmen. Die
Probleme mit ihrer Familie verbesserten sich trotz mehrfacher Versuche ihrerseits nicht. Als ihr
jüngster Bruder eines Abends zu Besuch in ihrer neuen Wohnung war, bittet er sie ihn zum Bus zu
begleiten. Kurz vor der Bushaltestelle Berlin-Tempelhof bleibt er einen Moment stehen und zieht
eine Pistole aus der Tasche. Die Pistole richtet er schließlich auf Hatun und fragt: „Bereust du deine
Sünden?“ Dies ist die übliche Frage, die dem Opfer eines Ehrenmords vor der Tat gestellt wird.
Während der Tat muss der Erlöser der Familie der Schande ins Gesicht sehen und mit Augenkontakt
jene Frage stellen. Und so blickt Hatuns jüngster Bruder am Abend des 07. Februars 2005 in ihre
Augen und drückt ab. Drei Schüsse treffen ihren Kopf. Hatun Sürücü liegt am Boden, durch drei
Kopfschüsse getötet. Eine Kippe, an der die Glut noch brennt und eine zerbrochene Kaffeetasse
liegen neben ihr. Can ihr 5 Jahre alter Sohn ist nun Waise. Diese Tat wurde von ihrer Familie oder
zumindest von drein ihrer Brüder genau geplant und überlegt. Nach der Tat wird beim jüngsten
Bruder eine goldene Uhr entdeckt. Üblicherweise erhält der Erlöser der Familie nach dem Ehrenmord
eine goldene Uhr.

Im Juli desselben Jahres erhebt die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen die drei Brüder. Die
Anklage gegen die zwei ältesten Brüder wird jedoch fallen gelassen, nachdem der jüngste Bruder den
Mord gesteht und mit einer Jugendstrafe davonkommt. Die Jugendstrafe beträgt neun Jahre und drei
Monate. Die Brüder werden aus Mangel an Beweisgründen freigesprochen. Selbst die Aussage der
Freundin des jüngsten Bruders konnte diesen Umstand nicht ändern. Sie sah die Planung der Brüder
mit an und den Stolz über die Tat. Außerdem konnte sie bei der Familie zuhause keinerlei Trauer
feststellen. Die Freundin weiht nach diesen Vorkommnissen ihre Mutter ein, die sie dazu bringt
auszusagen und zur Polizei zu gehen, während Hatuns Familie sie zu einer Falschaussage zu Gunsten
des jüngsten Bruders drängen will und sie auch bedroht. Sie verliert aus Angst vor den Bedrohungen
der Familie sogar zeitweise ihre Stimme. Dennoch schafft sie es mit der Unterstützung ihrer Mutter,
trotz vorheriger Falschaussage, schlussendlich die Wahrheit zu sagen. Sie erzählt vor Gericht von der
gemeinsamen Planung der Familie. Die Brüder haben sich in einer Moschee in Berlin die Erlaubnis für
die Tötung geholt. Einer der älteren Brüder besorgte die Waffe, der andere stand während der Tat
schmiere. Sie erzählte davon, dass einer der älteren Brüder ihr gegenüber die Aussage tätigte, dass
die Tat aus Überzeugung geschah und dass es keine Sünde wäre Ungläubige zu töten. Nach ihrer
Aussage muss sie mit ihrer Mutter gemeinsam ins Zeugenschutzprogramm. Das konnte zwar leider
den Freispruch der beiden anderen Brüder nicht verhindern. Jedoch wird unter anderem durch ihre
Aussage und durch die Aussagen von Hatuns Freunden und einer helfenden Sozialarbeiterin
verhindert, dass Can zur Familie Sürücü kommt. Die Mutter und die nun älteste Schwester der
Familie Sürücü bekommen nicht das Sorgerecht für Can. Can kommt zu Pflegeeltern und wurde von
diesen bis zum Erwachsenwerden aufgezogen. Des Weiteren ist über den Prozess bekannt, dass ihre
älteste Schwester als Nebenklägerin für Hatun auftritt, nur um durch die Akteneinsicht
Informationen für den Anwalt ihrer Brüder zu sammeln. Der Rest der Familie, der nicht angeklagt
wurde, sagt für die Brüder aus. Das funktionierte auch und sorgte für einen Freispruch der beiden
älteren Brüder. Aber was solls? Sie war eben nur eine Frau.
Ihr fragt euch bestimmt: Das kann doch nicht alles sein? Das ist die deutsche Justiz? Naja, 2007 wollte
der Bundesgerichtshof den Fall neu aufrollen. Doch zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Brüder
längst in die Türkei geflohen. Sie leben heute noch beide in Istanbul. Einer der beiden Brüder hat
einen Dönerladen in Istanbul eröffnet. Die Anklage des einen Bruders ist unmöglich, da er keine
deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und sein gewöhnlicher Aufenthalt nun auch nicht mehr in
Deutschland ist. Es wäre nur möglich das Verfahren an die Türkei abzugeben, doch diese sind an
einer Verfolgung nicht interessiert. Gegen den anderen Bruder wird ein internationaler Haftbefehl
erlassen, doch die Türkei weigert sich ihn nach Deutschland auszuliefern. Deshalb stellt die deutsche
Staatsanwaltschaft das Verfahren 2008 erneut ein. Die Brüder leben weiterhin in Istanbul und führen
ein normales Leben. Der Vater der Familie Sürücü stirbt bereits kurze Zeit nach dem ersten
Verfahren. 2014 neun Jahre nach der Tat darf der jüngste Bruder die goldene Uhr aus dem Knast
tragen. Er wird freigelassen und direkt in die Türkei abgeschoben. Die Mutter der Familie verweilt in
Berlin. Allein und in einer sehr kleinen Wohnung. Sie wurde über den Dreh des Films „Nur eine Frau“
einige Zeit nach Veröffentlichung informiert. Sie hatte es nicht mitbekommen und meinte sie würde
ihn sich gerne mal ansehen. Die nun älteste Schwester lebt inzwischen bei ihren Brüdern in Istanbul.
Sie kümmert sich dort um den Haushalt und hat keinen Schulabschluss. An dem Ort von Hatuns
Ermordung wird ein Gedenkstein für sie errichtet. „Hier wurde Hatun Sürücü am 7. Februar 2005
ermordet, weil sie sich Zwang und Unterdrückung ihrer Familie nicht unterwarf, sondern ein
selbstbestimmtes Leben führte. Zum Gedenken an sie und die weiteren Opfer von Gewalt gegen
Frauen in dieser Stadt“. 2013 leiten die türkischen Behörden endlich doch ein Verfahren gegen die
beiden Brüder ein, die in der Türkei leben. Die Generalstaatsanwaltschaft in Istanbul erhebt Anklage
gegen die beiden älteren Brüder. Berlin übersendet hierfür zahlreiche Akten aus dem alten
Verfahren. 2016 beginnt der Prozess gegen sie in Istanbul. Sie werden beschuldigt den jüngeren
Bruder mit der Tötung beauftragt und die Tatwaffe besorgt zu haben. 2017 werden die beiden
Brüder erneut wegen Mangel an Beweisen freigesprochen. Der jüngste Bruder behauptete immer
noch, dass er die Tat komplett allein vollzogen hat. Die damalige Freundin des jüngsten Bruders lebt
inzwischen unter neuer Identität irgendwo in Europa und fürchtet noch immer um ihr Leben. Im
Februar 2018 möchte das Berufungsgericht in Istanbul den Fall aufgrund einer Beschwerde des
türkischen Familienministeriums wiedereröffnen. Was aus diesem erneuten Verfahren wurde, ist bis
heute nicht in Deutschland bekannt. Es kann jedoch damit gerechnet werden, dass die Brüder noch
immer auf freiem Fuß sind und in Ostanatolien ihre sunnitisch-kurdische Tradition weiterhin leben.
Die ist leider nicht der einzige Ehrenmord, doch dennoch der bekannteste. Das Bundeskriminalamt
hat sechs Beispiele für das Fehlverhalten einer Frau gesammelt, die mit einem Ehrenmord durch die
eigene Familie bestraft werden können.

  1. Die Frau lehnt einen von der Familie ausgewählten Ehemann ab und verweigert die
    Zwangsheirat.
  2. Die Frau hat ihre Jungfräulichkeit vor der Ehe verloren.
  3. Die Frau beabsichtigt eine Trennung vom Ehemann und/oder ihrer Familie und vollzieht
    diese, ihre Kinder nimmt sie gegebenenfalls mit.
  4. Die Frau untergräbt die Beschützer- und Versorgerrolle des Mannes, beispielsweise durch
    Erwerbstätigkeit.
  5. Die Frau wendet sich von den Traditionen und Sitten des Herkunftslandes ab und orientiert
    sich am westlichen Lebensstil.
  6. Die Frau unterhält eine außereheliche oder von den Eltern nicht geduldete Beziehung. Dabei
    kann allein der Verdacht ausreichen.
    Wenn euch das Thema weiterhin interessiert, schaut euch unbedingt den Film „Nur eine Frau“ an. Er
    ist auf YouTube, Amazon Prime Video und in der ARD-Mediathek zu finden.
    Quellen:
    „Nur eine Frau“ – der Film (erschienen am 9. Mai 2019) von Fabian Römer
    Phoenix Dokumentation Hatun Aynur Sürücü Ehrenmord
    http://nureinefrauderfilm.de/media/pdf/schulmaterial/NUR%20EINE%20FRAU%20Schulmaterial.pdf

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert